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22.02.2016

Gescheitert: Verfassungsbeschwerde gegen den „Pflegenotstand“ nicht zur Entscheidung angenommen

Mit am 19.02.16 veröffentlichtem Beschluss hat die 1. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts eine Verfassungsbeschwerde gegen den sogenannten „Pflegenotstand“ nicht zur Entscheidung angenommen. Die Beschwerdeführer, sechs Seniorinnen und Senioren, wollten gerichtlich feststellen lassen, dass die gegenwärtigen staatlichen Maßnahmen zum Schutze der Grundrechte von Pflegeheimbewohnern nicht genügen und der Staat zur Abhilfe und kontinuierlichen Überprüfung verpflichtet ist.

Das höchste Gericht sah die Verfassungsbeschwerde unzulässig an, da eine Verletzung einer grundrechtlichen Schutzpflicht durch grundgesetzwidriges Unterlassen des Gesetzgebers sowie die eigene und gegenwärtige Betroffenheit der Beschwerdeführer nicht hinreichend substantiiert vorgetragen worden sei.

Sachverhalt und Verfahrensgang

Wie das Bundesverfassungsgericht in einer Pressemitteilung ausführte, haben Pflegebedürftige Personen gemäß § 43 Abs. 1 Sozialgesetzbuch Elftes Buch (SGB XI) Anspruch auf Pflege in vollstationären Einrichtungen, wenn häusliche oder teilstationäre Pflege nicht möglich ist oder wegen der Besonderheit des einzelnen Falles nicht in Betracht kommt.

Die Beschwerdeführer fürchten, aufgrund ihres Gesundheitszustandes in absehbarer Zeit vollstationärer Pflege in einem Pflegeheim zu bedürfen. Zum Teil nehmen die Beschwerdeführer bereits ambulante Pflegedienste in Anspruch oder werden von Angehörigen im häuslichen Umfeld gepflegt. Mit ihrer Verfassungsbeschwerde wollen die Beschwerdeführer auf Missstände in deutschen Pflegeheimen aufmerksam machen. Sie halten die Verletzung von Schutzpflichten der öffentlichen Gewalt gegenüber den Bewohnern von Pflegeheimen aufgrund von gesetzgeberischer Untätigkeit für gegeben. Die bisherigen Reformen und Gesetzesnovellen hätten keine spürbare Verbesserung der Situation von Pflegeheimbewohnern gebracht.

Wesentliche Erwägungen der Kammer

Die Verfassungsbeschwerde ist nach Auffassung der höchsten Richter unzulässig, weil sie nicht den an sie zu stellenden Begründungserfordernissen genügt.

So liessen sich der Verfassung nur in seltenen Ausnahmefällen konkrete Pflichten entnehmen, die den Gesetzgeber zu einem bestimmten Tätigwerden zwingen. Ansonsten bleibt die Aufstellung und normative Umsetzung eines Schutzkonzepts dem Gesetzgeber überlassen. Ihm komme ein weiter Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsspielraum zu. Die Entscheidung, welche Maßnahmen geboten sind, könne vom Bundesverfassungsgericht nur begrenzt nachgeprüft werden. Es könne erst dann eingreifen, wenn der Gesetzgeber seine Pflicht evident verletzt hat.

Eine Verletzung einer grundrechtlichen Schutzpflicht durch Unterlassen des Gesetzgebers sei nicht hinreichend substantiiert vorgetragen worden. Weder hätten die Beschwerdeführer ausgeführt, unter welchen Gesichtspunkten die bestehenden landes- und bundesrechtlichen Regelungen zur Qualitätssicherung evident unzureichend sein sollten, noch zeige die Verfassungsbeschwerde substantiiert auf, inwieweit sich eventuelle Defizite in der Versorgung von Pflegebedürftigen in Pflegeheimen durch staatliche normative Maßnahmen effektiv verbessern ließen.

Des Weiteren zeige die Verfassungsbeschwerde nach Auffassung des Gerichts auch nicht hinreichend substantiiert auf, dass die Beschwerdeführer selbst, gegenwärtig und unmittelbar in ihren Grundrechten verletzt sind. Die Möglichkeit der eigenen und gegenwärtigen Betroffenheit sei grundsätzlich erfüllt, wenn der Beschwerdeführer darlegt, dass er mit einiger Wahrscheinlichkeit durch die auf den angegriffenen Rechtsnormen beruhenden Maßnahmen in seinen Grundrechten berührt wird. Vorliegend sei bereits die Notwendigkeit von stationärer Pflege in der Person der Beschwerdeführer nicht mit der gebotenen Wahrscheinlichkeit gegeben. Hinzu komme, dass Pflegebedürftige gemäß § 2 Abs. 2 Satz 1 SGB XI zwischen den für die Versorgung zugelassenen Pflegeheimen wählen können. Gegenüber grundrechtswidrigen Pflegemaßnahmen sei um fachgerichtlichen Rechtsschutz zu ersuchen.

Diese Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts ist unanfechtbar.

Kritik des Sozialverband VdK Deutschland

Der Sozialverband VdK Deutschland, der die Klage zum Pflegenotstand unterstützt hatte, zeigte sich enttäuscht über die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts. Die VdK-Präsidentin, Ulrike Mascher, erklärte in einer Presseaussendung vom 19.02.16, ihr Verband nehme die Entscheidung mit großem Bedauern zur Kenntnis.

„Die Mängel und der Notstand in Pflegeheimen sind aus unserer Sicht evident und hinreichend belegt. Die gesetzgeberischen Maßnahmen auf Bundes- und Landesebene haben für viele Bewohnerinnen und Bewohner in deutschen Pflegeheimen die Not nicht wirklich verbessern können. Immer noch gibt es zu wenige Pflegekräfte, zu wenig Zeit und zu wenig Aufmerksamkeit. Mit der Nichtannahme der Verfassungsbeschwerde vermeidet das Bundesverfassungsgericht die dringend notwendige Auseinandersetzung mit der defizitären Menschenrechtssituation in Pflegeheimen“, kritisierte Mascher.

„Das Bundesverfassungsgericht verweist die Betroffenen darauf, im Fall einer Verletzung Rechtsschutz vor den Fachgerichten zu suchen. Dies blendet aus, dass in den vergangenen Jahrzehnten der Rechtsschutz auf diesem Wege effektiv nicht funktioniert hat. Die starke Abhängigkeitssituation sowie die krankheitsbedingte Hilflosigkeit der Pflegebedürftigen bringen mit sich, dass sie sich nur sehr schwer als Einzelpersonen zur Wehr setzen können“, so das Fazit der VdK-Präsidentin.

Der Sozialverband VdK werde sich unabhängig von der heutigen Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts weiterhin für die Rechte und den Schutz der Pflegebedürftigen einsetzen. „Der VdK weist ausdrücklich darauf hin, dass diese Entscheidung kein Freibrief für die Bundesregierung sein darf, dieses Thema ad acta zu legen. Wir werden unsere Forderungen an die Pflegegesetzgebung unvermindert aufrechterhalten. Die Politik ist gefordert“, bekräftigte Mascher abschließend.

Weitere Informationen

Beschluss vom 11. Januar 2016 der 1. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts zur Verfassungsbeschwerde gegen den sogenannten „Pflegenotstand“